Erste Schwierigkeit ist ein später Wintereinbruch im April 2016, der extreme Schneemengen in den Pamir bringt. Selbst unsere ersten beiden Wochen im Wakhan‐Korridor, Anfang bis Mitte Juni, sind von ständiger Bewölkung und Niederschlägen geprägt. In normalen Jahren dagegen besteht zu dieser Zeit im Pamir eine stabile Sommerhochdrucklage mit langen Sonnenscheinperioden. Berichte von Hilfsorganisationen über verendete Tiere bei den Herden der Kirgisen und Wakhi erreichen uns bereits im Mai. Obgleich sich die Situation der Tierherden vor Ort nicht derart dramatisch zeigt, sind die Schneemengen auf den Sommerpässen der Wakhi und Kirgisen ein Problem, unsere Akklimatisierungsroute wie geplant zu beginnen. So können wir auf dem Weg in den Großen Pamir nicht mit den benötigten Tragtieren den Pass Kotal‐e‐Sargez überqueren, da nach einhelliger Meinung der lokalen Bevölkerung und damit unserer Tiertreiber diese Pässe noch nicht begehbar sind. Diese erste Planänderung ist noch kein größeres Problem, da wir vom Zusammenfluss von Wakhan‐Darja und Pamir‐Darja in Goz Khun auch die Flussroute entlang des Pamir‐Flusses in den Großen Pamir nehmen können. Somit erwandern wir den gesamten Lauf des Pamir‐Flusses bis zu seinem Ursprung, dem Abfluss des Zorkul‐Sees. Wir sind auf den Spuren von John Wood unterwegs (Wood 1841). Auf seiner gesamten Länge bildet der Pamir‐Fluss hier die Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan – auf tadschikischer Seite folgt eine mit Allradjeeps befahrbare Piste dem Lauf des Flusses, auf unserer afghanischen Seite lediglich ein Saumpfad für Pferde, Yaks und Kamele.
Den Großen Pamir zur rechten, die Gipfel der Schachdarakette zur linken Hand, folgen wir entlang atemberaubender Schluchten dem Lauf des Pamir. Mit dem Zugewinn an Höhe von 2800 m ü. NN bis 4200 m ü. NN werden die Schluchten flacher und der Weg führt uns zu ausgedehnten Hochflächen und den ersten Kirgisenlagern. Je weiter wir nach Osten gelangen, desto mehr Erstaunen löst unser Kommen bei den Familien aus: Die wenigen Touristen, die den Wakhan vornehmlich im Westteil besuchen, stoßen selten so weit vor. Selbst unser afghanischer Bergfreund Malang aus Qazi‐Deh ist gespannt auf den Zorkul und die dort lebenden Kirgisen. Er ist bei seinen Streifzügen durch Großen und Kleinen Pamir bislang noch nie soweit dem Lauf des Pamir nach Osten gefolgt.
Nach sieben Tagen erreichen wir unser erstes Ziel, den Zorkul (früher Lake Victoria genannt) an seinem südlichen Ufer. Die gut zu erkennende Straße auf tadschikischer Seite ist zu dieser Jahreszeit noch so gut wie unbefahren. Keine fünf Fahrzeuge haben während unserer einwöchigen Wanderung ihre Staubfahnen in die Landschaft gezeichnet. In der Nähe des Sees treffen wir auf ein weiteres Lager hier lebender Kirgisen. Leider verfolgt uns der späte Winter noch immer und wird nun zu unserem ersten ernsthaften Problem. Unsere Hoffnung, dass in den ersten zehn Expeditionstagen der Pamirsommer mit praller Sonne den Schnee auf den Pässen geschmolzen hätte, bleibt unerfüllt. Wolken sowie nächtliche Regen‐ und Schneeschauer sind unsere steten Begleiter. So lehnen die kirgisischen Viehtreiber hier unseren Plan, in insgesamt zwei Tagen die Pässe Kotal‐e‐Shaur (4890 m), Kotal‐e‐Karabel (4820 m), Uween‐e‐Sar (4887 m) und Akbelis (4595 m) nach Bozai Gumbaz in den Kleinen Pamir zu queren, ab. Obgleich lokale Mitarbeiter der WCS (=Wildlife Conservation Society) und wir nach eingehender Gelände‐ und Schneeerkundung überzeugt sind, dass die Schneeverhältnisse zumindest für Yaks machbar wären, können wir niemanden für einen Versuch gewinnen. Eine Rolle dafür spielt wohl auch, dass die kirgisischen Viehnomaden mit ihren Lasttieren lieber Lebensmittelspenden der internationalen Gemeinschaft im Tal abholen wollen.
Dies erfordert eine sofortige Entscheidung, wie mit dem nun eingetretenen Zeitverlust umzugehen ist: Entweder wir bleiben die gesamte Zeit im Großen Pamir, versuchen uns an hier reich vorhandenen Erstbesteigungsoptionen bis etwa 5800 m und geben die Ziele im Kleinen Pamir damit auf – oder wir verfolgen den ursprünglichen Plan weiter und hoffen, mit Gewaltmärschen zurück nach Goz Khun noch rechtzeitig in den Kleinen Pamir zu kommen. Wir entscheiden uns für die zweite Option, also auf der Nordseite des Großen Pamir den gesamten Lauf des Pamir‐Flusses gen Westen zurückzuverfolgen bis Goz Khun, uns dort wieder nach Osten zu wenden und auf der Südseite des Großen Pamir über die Schotterpiste entlang des Wakhan‐Flusses mit einem Jeep so schnell wie möglich nach Sarhad zu fahren. Von dort aus wollen wir zu Fuß nach Bozai Gumbaz in den Kleinen Pamir gelangen.
Wir schaffen den Rückweg der gesamten Strecke, die wir in sieben Tagen aufgestiegen sind, in vier Tagen. Einzige Motivation der Tiertreiber für die bis zu 16 Gehstunden langen Etappen ist, ihnen das Salär für sieben Tage zu zahlen, wenn sie die Strecke in vier Tagen mit uns laufen. Ungeachtet unserer jetzt großen Zeitanspannung, nehmen wir uns Zeit für botanische Studien an den nun deutlich grüneren Berghängen. Die vegetationsreiche Jahreszeit hat Mitte Juni endlich begonnen. Wir begegnen unzähligen Wakhi‐Karawanen, die mit ihren Tieren auf die Sommerweiden ziehen. Flussquerungen, die eine Woche zuvor kaum Probleme darstellten, werden nun deutlich schwieriger.
In Goz Khun gelingt es Malang per Telefon, einen Fahrer mit Jeep für den nächsten Morgen zu organisieren. Er soll uns nach Sarhad bringen. Unser Rekordmarsch von 44 km Luftlinie am letzten Tag des Abstieges nach Goz Khun zeigt, wie gut und effektiv unser Akklimatisierungstrekking war. Konditionsschwächen spüren wir nicht.
Von Sarhad aus gilt es, nun so schnell wie möglich nach Bozai Gumbaz zu kommen, um die weiteren Ziele (Erstbesteigungen, Oxus‐Quelle) zu verfolgen. Nach der Überwindung des Daliz‐Passes (4267 m) hinter Sarhad‐e‐Boroghil treffen wir wieder auf den Wakhan‐Darja und folgen seinem Lauf bis zum Zusammenfluss von Wakhir‐Darja und Bozai‐Darja.
Die zwei weiteren Ziele gehen wir nun parallel an, da wir aufgrund der fortgeschrittenen Zeit nicht mehr beide Pläne mit allen Teammitgliedern verfolgen können. Ein Teil der Gruppe zieht von Bozai Gumbaz aus zu den Oxus‐Quellen am Chakmaktin‐See, der andere quert den Wakhir‐Darja nach Süden und wandert im Pamir‐e‐Wakhan dem Ziel einer Erstbesteigung entgegen.