Der Wakhan

"Zwölf Tage lang führt ein Weg über die Hochebene, die Pamir genannt wird. Da man während der ganzen Zeit auf keine menschliche Ansiedlung trifft, muss man sich zuvor mit allem Nötigen versorgen. So hoch sind hier die Berge, dass man hier keine Vögel in der Nähe der Gipfel sieht, und es wurde sogar behauptet, dass Feuer, die man anzündet, wegen der Schärfe der Luft nicht dieselbe Hitze geben wie in niedrigen Gebieten…"

Marco Polo

Der Wakhan-Korridor - Das andere Afghanistan

Zwischen majestätischen, schneebedeckten Bergriesen mit bis zu 7000 m Höhe schlängelt sich der Wakhan-Korridor durch das nordöstliche Afghanistan. Aus Zeit und Raum gefallen scheint diese Hochebene und trennt die Hochgebirge des Pamir und Hindukusch voneinander.

Bei der Vorbereitung unserer Wakhan-Expedition fragen Familie und Freunde immer wieder besorgt, warum denn ausgerechnet dieser isolierte und vermeintlich gefährliche Landstrich das Ziel unserer Reise sein müsse. Sicher, der Wakhan-Korridor ist eine der abgeschiedensten und entrücktesten Gegenden dieser Erde. Die dünn besiedelte Hochebene ist mit ihren 2500-4300 m Höhe jedoch so weit entfernt von jeglicher Zivilisation, dass sie selbst den Taliban zu hoch ist, wie das Nahost-Magazin Zenith in seiner Herbstausgabe schrieb. Es ist gerade die einzigartige Unberührtheit von Natur- und Bergwelt, die wir erkunden möchten. Und wir möchten Menschen treffen, kirgisische Yak-Nomaden und Wakhi-Ackerbauern, die seit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 kaum Kontakt zur Außenwelt haben.

Der Wakhan-Korridor schiebt sich mit seinen ca. 350 km Länge und bis zu 60 km Breite wie eine Landzunge zwischen Pakistan und Tadschikistan, an deren Ende wartet bereits China. Selbst Marco Polo hat den Wakhan durchquert, denn eine alte Route der Seidenstraße verlief mitten durch die Hochebene nach China. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich eine Yak-Karawane vorzustellen, die voll bepackt das Tal entlangzieht. Und wirklich: Kneift man die Augen zusammen, lässt sich an einem der Berghänge vielleicht ganz schwach eine der Handelskarawanen erkennen, die über Jahrtausende hinweg Waren zwischen Ost und West über diesen schmalen Durchlass der höchsten Gebirge der Erde transportierten.

Wir entscheiden uns bei der Anreise für den vergleichsweise sicheren, bequemen und legalen Weg über Tadschikistan: Die Grenze zu China ist seit über 60 Jahren verschlossen, das pakistanische Militär hat die Zugänge zu den Hochtälern des Wakhan abgeriegelt, lässt niemanden mehr auch nur in die Nähe der Grenze und der Weg über Kabul ist lang und gefährlich. Eine Anreise über Tadschikistan hingegen ist naheliegend: Mittags steigt man in Frankfurt oder Berlin in das Flugzeug, fliegt mit Turkish Airlines komfortabel bis Duschanbe und kommt dort nachts ca. um 3 Uhr an. Mit Marschrutnoje, dem Sammeltaxi, geht es am späten Vormittag weiter zur langen Fahrt nach Khorog, weiter nach Ischkaschim und schon ist man im afghanischen Wakhan.

  • Karte Afghanistan mit Wakhan-Korridor
  • Grenze zum Wakhan
Karte Wakhan-Korridor
  • Blick in den Wakhan-Korridor
  • Yurtenbesitzer im Wakhan

In der Linken der Koran, in der Rechten der Wodka

In dem vom Rest der Welt völlig isolierten Wakhan ist das Leben hart und beschwerlich - eine ausgebaute Infrastruktur oder regelmäßige Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung gibt es hier nicht. Die Wakhi, persischstämmige Ackerbauern, bewohnen in kleinen Siedlungen die westliche Hälfte des Wakhan und ernähren sich von dem Wenigen, was ihnen die Erde gibt. Der größte Schatz einer Familie sind ihre Felder, Schafe, Ziegen und auch die aufwendig gepflegten Bewässerungskanäle für die Äcker. Die Wakhi-Bauern teilen sich den Wakhan-Korridor mit kirgisischen Nomaden, die auch heute noch mit ihren Yaks, Pferden, Kamelen und Schafen im östlichen Hochland umherziehen. Das Wasser des Pjandsch - des antiken Oxus - ist für die Bewohner des Wakhan Quell und Grundlage ihres Lebens.

So zweigeteilt Geographie und Ethnien im Wakhan sind, ist es auch die Religion: Die tiefen fruchtbaren Täler des Westens sind Heimat der ismailitischen Wakhi und die flachen offenen Hochebenen des Ostens werden von den turkstämmigen sunnitischen Kirgisen durchstreift. Die Ismailiten leben eine sehr offene und liberale Variante des Islam. Die teils erbitterten Religionskämpfe zwischen muslimischen Gemeinden in anderen Teilen Afghanistans oder dem benachbarten Pakistan scheinen hier weit weg. Frauen werden als gleichberechtigte Mitglieder in die Gemeinschaft integriert, eine Burka oder einen Hijab sucht man hier vergebens. Der religiöse Führer der Ismailiten ist der Nachfolger des Agha Khan, Karim Aga Khan IV. Die finanzkräftige Aga-Khan-Stiftung unterstützt nicht nur im Pamir, sondern weltweit zahlreiche Projekte in der Entwicklungshilfe.

Nicht vergessen darf man das postsowjetische Erbe, das in allen zentralasiatischen Ländern zu finden ist. Die russische Sprache ist im Wakhan mittlerweile zwar kaum noch verbreitet - doch in den Sitten und Gebräuchen verbinden sich russische mit muslimischen Gepflogenheiten. Den Genuss eines guten Wodka würde - ganz im Gegensatz zum weit verbreiteten Alkoholverbot im Islam - wohl kaum ein Kirgise ablehnen; allerdings ist das Wässerchen ein seltenes Luxusgut in der auf Hilfslieferungen angewiesenen Region.

Kräftemessen zwischen Russland und England im Wakhan

Im 19. Jahrhundert entbrannte zwischen den Kolonialmächten England und Russland ein Wettlauf um die Vorherrschaft in Zentralasien, der als «Great Game» in die Geschichte eingegangen ist. Russland versetzte die Regierung in London in große Sorge, als es die muslimischen Khanate von Chiwa, Kokand, Samarkand und das Emirat Buchara an seiner Südflanke annektierte. Damit rückte die Südgrenze des russischen Einflussgebiets gefährlich nah an den britischen Kolonialbesitz in Indien. Großbritannien fürchtete, dass sich Russland auch Teile der britischen Kolonie einverleiben wolle. Um das britisch beherrschte Indien vom russischen Zarenreich abzugrenzen und die angespannte Lage zu entschärfen, wurde der Wakhan-Korridor im russisch-britischen Pamir-Vertrag 1895 als Pufferzone zwischen den damaligen Supermächten erschaffen und Afghanistan zugeordnet.

Wie veränderte diese weltgeschichtliche Zäsur das Leben der Bevölkerung in dieser Bergregion? Zunächst einmal gar nicht; die Pamir-Kirgisen lebten weiterhin im Sommer in den afghanischen Hochebenen und zogen bei Wintereinbruch in die Täler. Das änderte sich, als Russland im Jahr 1930 seine Grenzen schloss, das kommunistische China sich ab 1949 immer weiter abschottete und Pakistan der Bevölkerung zunehmend den Grenzübertritt verwehrte. Nun waren die Kirgisen gezwungen, das Land zu verlassen oder fortan auch im langen harten Winter in der Abgeschiedenheit des Wakhan zu leben. Eine Minderheit entschied sich zu bleiben und lebt bis heute unter schweren Bedingungen.

im Wakhan-Korridor